Die weltübergreifende Macht des Self-Trackings
VON THOMAS LUCAS-NÜLLE
(Veröffentlicht in Das Produktkulturmagazin Ausgabe 1 2015)
Im Bereich Fitness fing der Trend des Self-Trackings zunächst ganz unscheinbar an. Erst waren es nur die Hobby-Jogger und Marathonläufer, die anfingen, ihren sportlichen Erfolg mithilfe kleiner Gadgets zu messen und mit anderen zu vergleichen und zu teilen. Hinzu kamen in den vergangenen Jahren neue Nutzergruppen, die unter anderem ihren Schlafrhythmus, ihre täglichen Schritte sowie ihren Biorhythmus kontrollieren wollten. Doch ist diese Entwicklung womöglich schon wieder zu Ende, kaum dass sie richtig begonnen hat?
Durch die permanente Nutzung entsprechender Apps für Smartphone, Tablet & Co. erhalten wir täglich Zugang zu neuen Tracking-Möglichkeiten: Was habe ich heute gegessen? Wie gesund waren die Dinge, die ich zu mir genommen habe? Wie vielen Kalorien entsprechen sie? Auf diese Weise entsteht ein persönliches Gesamtbild in der Cloud. Quasi ein Fitness-Dossier, welches wir selbst pflegen und aktuell halten. Auf diese Weise kann das Programm Empfehlungen erstellen und Tipps geben, wie: „Du hast gestern Nacht zu wenig geschlafen, du solltest den Tag mit etwas Bewegung beginnen.“ An diesen Tipps ist zunächst nichts Verwerfliches. Denkt man diese Entwicklung jedoch weiter, wird einem schnell bewusst, dass sie sich immer selbstverständlicher in viele unserer Lebensbereiche einschleicht. Bleibt die Frage: „Wo beginnt Kontrolle und wo hört sie auf?“
Die nächste Innovationsstufe wird zweifellos die Verknüpfung des Internets mit unserem alltäglichen Leben sein. Hierzu zählt vor allem das Thema „Augmented Reality“. Bereits heute sorgen die Anfänge der computergestützten Erweiterung der Realitätswahrnehmung (beispielsweise in Form von Googles Glass) für Diskussionsstoff. Die Einbettung von Informationen in unser natürliches Umfeld wird folglich eine ganz neue Form der Datenübertragung auslösen, die mittels Spracherkennung steuerbar ist.
Parallel dazu schreitet die Vernetzung von Daten, insbesondere der personenbezogenen Tracking-Informationen, in nie dagewesenen Dimensionen und Geschwindigkeiten voran. So werden ganze Städte mit allen Einrichtungen, Geschäften und Restaurants digital immer stärker erfasst. Die Daten des Fitness-Self-Trackings machen diesen Vorgang der Zielgruppenerfassung informationstechnisch rund. Körpermaße, aktuelles Gewicht etc. sind auf Basis der vorhandenen Grundwerte bereits erfasst. Auf diese Weise entsteht der perfekte „gläserne“ Mensch als potentieller Kunde. Und das schönste daran: Er erfasst seine Daten freiwillig und stellt diese kostenlos zur Nutzung Dritter bereit. Viele Versicherungskonzerne haben die Vorteile, die sich daraus ergeben, bereits erkannt. Und auch für deren Kunden, insbesondere für junge und sportliche Menschen, erscheint diese Entwicklung durchaus lohnenswert. So erhalten sie mit dem Self-Tracking beispielsweise Chancen auf attraktive Sonderkonditionen. Doch welche Situation könnte eintreten, wenn dieser Trend Bedingung würde? Bekommen Menschen, die keine Lust aufs Tracking haben, dann automatisch keine Krankenversicherung mehr, nur weil die Mehrheit sich bereits dafür entschieden hat? Die ersten chinesischen Großstädte führen solche flächendeckenden Programme bereits ein.
Spinnen wir die Gedanken an die (nahe) Zukunft noch ein wenig weiter: Was, wenn künftig nur noch wenige große Firmen weltweit in der Lage sind, steuern zu können, welche Informationen zu uns durchdringen sollen und welche nicht? Durch die große Konzentration der Datensammler in der westlichen Welt sind wir bereits auf dem direkten Weg zu diesem Szenario. Umso selbstverständlicher die Informationsbereitstellung wird, und Augmented-Technologien spielen hier eine Schlüsselrolle, umso mehr werden wir ihr vertrauen. Wer verfügt heutzutage beispielsweise nicht über ein Navigationsgerät in seinem Auto? Straßenkarten hingegen sind mittlerweile vom Radar der Nutzer so gut wie verschwunden. Oder wer wird sich in den kommenden Jahren noch selbst auf die Suche nach einem passenden Restaurant in einer unbekannten Stadt machen? Die entscheidende Frage wird sein: Vertraue ich blind den angezeigten Bewertungen, die das Display meiner multifunktionalen Head-up-Brille mir vorgibt? Was aber, wenn das entsprechende Restaurant mittlerweile seine Adwords-Kampagne nicht mehr bezahlen kann und daher gänzlich ausgeblendet wird? Werde ich dieses Restaurant dann überhaupt noch wahrnehmen?
Ebenso verhält es sich mit der eingangs beschriebenen Gewöhnung daran, dass uns unser Smartphone sagt, ob wir gut und genug geschlafen oder vernünftig gegessen haben und im nächsten Schritt, was wir heute idealerweise zu uns nehmen sollten – inklusive Empfehlung des entsprechenden „Marken“-Produkts. Der Schritt zur personalisierten Empfehlung von Lifestyle-Trends und Typberatung in der Community ist also nicht mehr weit und die weitreichenden Optionen zur Manipulation sind damit perfekt.
Wie kritisch diese „Fernsteuerung“ ist, zeigt außerdem die immer wieder aufkommende Diskussion in den USA zu Zeiten des Wahlkampfs, bei dem Facebook- und Twitter-Kampagnen ein erheblicher Erfolgsfaktor waren und immer noch sind. Doch niemand weiß, ob die abertausenden Likes, Kommentare und Retweets von realen Personen stammen oder von sogenannten „Sockenpuppen“. Das sind Programme, die Massenmeinungen steuern oder sogar komplett simulieren. Im Zweifelsfall von wenigen Menschen im Hintergrund erschaffen und mit Zugang zu großen Rechenkapazitäten. Diese fungieren wie „Sirenenserver“, sie ziehen immer mehr weitere Nutzer an, die den Trends und Meinungen folgen und unterschiedlichste Informationen weiter verbreiten. Einmal in ihren Bann gezogen, kommt man nur schwer wieder davon los. Facebook und Co. sind dahingehend sicherlich die am schnellsten wachsenden Kandidaten von Sirenenservern im westlichen Teil der Welt. Entsprechende Gegenstücke in China und dem asiatischen Raum sind meist sogar noch größer – siehe Alibaba, die als bekannteste Plattform auch bei uns vielen ein Begriff ist.
Wir leben also in einer sich immer weiter vernetzenden Welt, deren technologischer Fortschritt Fragestellungen bereithält, die das Potential besitzen, unseren Alltag und damit verbunden unsere gesellschaftlichen Gewohnheiten von Grund auf zu ändern. Es ist demnach nicht die Frage, ob all diese Szenarien eintreten werden, sondern wann und in welcher Form und Intensität. Unternehmen müssen sich daher in Zukunft darauf einstellen, jegliche Art von Informationen in digitaler Form und entsprechend strukturiert dem Markt bereitzustellen. Vor allem spezifischen Produktinformationen wird eine besonders unternehmenskritische Rolle zuteilwerden, da sonst die zu vermarktenden Produkte „Präsenz“ und die Brands damit Marktanteile verlieren.
Fazit: Es ist höchste Zeit, die vorherrschende Trennung zwischen Online einerseits und dem klassischen Vertrieb bis hin zu Print andererseits aufzubrechen und die entsprechenden Organisationsstrukturen einzugliedern, um bestehende Prozesse und IT-Systeme gesamtheitlich intelligent zu vernetzen.
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THOMAS LUCAS-NÜLLE
Als geschäftsführender Gesellschafter der LNC Group GmbH & Co. KG und der Xtentio GmbH gilt Thomas Lucas-Nülle als einer der führenden Experten im Bereich Omnichannel und vernetzte Informationswelten. Er beschäftigt sich seit Jahren überwiegend mit der immer schneller voranschreitenden Vernetzung und deren Konsequenzen für Unternehmen und die Gesellschaft. Die Unternehmensgruppe berät vorwiegend die Top-Unternehmen aus B2C und B2B in den Sektoren Versandhandel, Retail sowie Industrie.
BERATER
Die Xtentio GmbH zählt zu den führenden Spezialisten für Analyse, strategische Beratung und vernetzte Multiprojektleitung im Bereich Information Supply Chain Management.
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Picture credits © mustafahacalaki/istockphoto
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