TGOA X FORRESTER

TGOA X FORRESTER

VON CARMELA MELONE
(Veröffentlicht in THE GAZETTE Ausgabe 01 im November 2022)

In diesem Interview haben wir mit Dario Maisto, Senior Analyst bei Forrester Research, über Digital Operations Platforms als Weiterentwicklung von ERP-Lösungen sowie über Public Cloud-Projekte in Europa gesprochen.

Die immer größer werdende Nachfrage nach Cloud-Technologien lässt auch die Erwartungen steigen: Belastbar, kontrollierbar und sicher soll die Cloud sein. Gleichzeitig sind die Vorschriften der europäischen Regierungen und einiger Industrien äußerst streng – insbesondere im Vergleich zu den Regularien der Vereinigten Staaten. Laut Paul McKay, Vice President und Research Director bei Forrester, betrifft dies vor allem die öffentliche Verwaltung, das Gesundheitswesen, die Finanzbranche und auch das Ingenieurswesen. Dieser Umstand hat jedoch auch die Entwicklung von sogenannten souveränen Cloud-Diensten befördert, die mehr Kontrolle über die Datenspeicherung versprechen. Microsoft, Google und Oracle sind auf diesen Zug bereits aufgesprungen und kündigen separate Cloud-Infrastrukturen in der Europäischen Union an, um die digitale Souveränität der europäischen Kunden zu gewährleisten. Um mehr über das Thema Public Cloud zu erfahren und die geschäftlichen Anforderungen von Firmen und Unternehmen an cloudbasierte Softwaresysteme zu beleuchten – insbesondere im Bereich der Back-Office-Technologien wie ERP –, haben wir mit Dario Maisto, Senior Research Analyst bei Forrester, gesprochen.

Dario Maisto ist Cloud-Experte und beschäftigt sich bei Forrester mit den Themenkomplexen Digital Operations Platforms und Public Cloud. Maisto war lange Zeit als Stratege bei einem großen Systemintegrationsunternehmen und als Berater bei einem Technologieforschungsunternehmen tätig und ist darüber hinaus Autor des 2020 erschienenen Buches „The Digital Platforms Handbook“. Als in Deutschland lebender Italiener hat er Einblicke in die gesellschaftlichen, politischen und geschäftlichen Eigenheiten der beiden Länder.

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Interview mit Dario Maisto, Senior Research Analyst bei Forrester

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Herr Maisto, was sind die größten Unterschiede zwischen Deutschland und Italien, wenn es um das Thema Cloud geht?

In Italien ist der Bedarf an Cloud-Diensten in der öffentlichen Verwaltung hoch, weswegen bereits an einer öffentlichen Cloud-Infrastruktur mit zwei italienischen Anbietern und der AWS gearbeitet wird. In Deutschland hat man erst im letzten Jahr beschlossen, das Thema Cloud anzugehen. Deutschland liegt bei der Public Cloud für die öffentliche Verwaltung hinter anderen europäischen Ländern zurück. Dies kann jedoch auch ein Vorteil sein, da man von den Erfahrungen der anderen Länder lernen kann.

Warum ist Deutschland Ihrer Meinung nach in dieser Hinsicht so langsam?

Dafür gibt es viele Gründe. Deutschland ist kulturell ein sehr stabiles Land. Es funktioniert – und es funktioniert gut. Die Deutschen wollen verlässliche und bewährte Lösungen, von denen sie wissen, dass sie funktionieren, während die Italiener offener für Neues sind: Die Italiener sind ein Volk der Dichter und Seefahrer – Menschen, die offen für Entdeckungen sind.

Und wie schneiden Deutschland und Italien im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern ab? 

Wir sehen, dass Frankreich, Deutschland und Italien in unterschiedlichem Tempo vorangehen. Das Vorgehen ist aber in allen drei Ländern ähnlich. Es gibt einen Systemintegrator, einen Cloud-Anbieter und die Regierung – und alle arbeiten gemeinsam an diesem Projekt. Frankreich, Deutschland und Italien geben quasi den Takt in Europa vor. Sie zeigen, wie man das Thema auf nationaler Ebene umsetzt.

Natürlich ist die Geschäftswelt viel schneller und dynamischer, wenn es darum geht, neue Technologien zu adaptieren. Viele Unternehmen entscheiden sich heute für eine „Cloud-first“-Strategie und entlasten damit ihre IT-Abteilungen, während sie gleichzeitig die Grundlage für ein nachhaltiges und anpassungsfähiges Geschäft legen. Können Sie uns das Konzept der Digital Operations Platforms beschreiben und erläutern, wie es sich entwickelt hat?

Digital Operations Platforms sind eine zukunftsweisende Weiterentwicklung dessen, was wir „aktualisierte ERP-Systeme“ nennen. ERP-Systeme waren schon immer das Herzstück von Unternehmen im Dienstleistungssektor und in der Fertigung. Nach Ansicht einiger erfahrener Analysten waren sie sogar das allumfassende Bindeglied in diesen Unternehmen. Ab einem bestimmten Punkt mussten die ERP-Systeme jedoch aktualisiert werden. Einst noch Wegbereiter für das Business, stellten sie irgendwann Hürden dar, die die Unternehmen auf ihrem Weg zur digitalen Transformation nicht überwinden konnten. Aus diesem Grund begannen die Anbieter, ihr ERP-Angebot in Plattformen umzuwandeln. Das heißt, sie bieten nun agile, cloudbasierte und KI-gestützte Lösungen an, die nicht einfach nur in die Cloud migrierte ERP-Lösungen sind. Wir definieren Plattformtechnologie dahingehend, dass sie die fünf Verhaltensweisen von Kunden im digitalen Zeitalter adressiert: Engage, Access, Customize, Connect, Collaborate.

Wie wird dieser Übergang aus architektonischer Sicht auf dem ERP-Markt vollzogen? Bauen die Anbieter auf ihre bestehende ERP-Lösung auf oder entwickeln sie von Grund auf eine neue Plattform?

Das ist der große Unterschied zwischen den Anbietern. Einige haben einfach alte Lösungen in die Cloud migriert und arbeiten mit APIs und Add-ons sowie mit Microservices, um ihr On-Premise-Angebot aufzufrischen. Das hat einige Vorteile, denn die Lösungen sind sehr zuverlässig, wurden sie doch über Jahre hinweg weiterentwickelt. Andere haben die strategische Entscheidung getroffen, von Grund auf neue Plattformen zu entwickelt. Sie bauen auf ihren Erfahrungen als ERP-Anbieter auf, denken und entwickeln aber in der Cloud und für die Cloud. Auch dies hat einige Vorteile, aber auch einige Nachteile. Die Benutzeroberfläche sieht vielleicht schöner aus, doch es entstehen möglicherweise auch mehr Fehler, die behoben werden müssen. Im Großen und Ganzen lässt sich sagen, dass beide Ansätze Vorteile und Nachteile mit sich bringen.

Dann gibt es auch noch Unternehmen, die einen gemischten Ansatz verfolgen und ihre Lösungen mit aktuellen Markteinführungsstrategien neu verpacken. Sie verwenden also alte Elemente ihrer Lösung und mischen diese mit neuen Elementen, die sie beispielsweise in M&A-Geschäften zugekauft haben.

Dies ist auch auf dem PIM- und MDM-Markt zu beobachten. Wir befinden uns heute in einer großen Übergangsphase. Wie wirken sich die unterschiedlichen Ansätze Ihrer Meinung nach auf die Kunden der Anbieter aus?

Das hängt davon ab, ob sich das Unternehmen auf einer Reise der digitalen Transformation oder der kontinuierlichen Innovation befindet. Unternehmen, die zum Beispiel neue ERP-Funktionen integrieren oder verschiedene Instanzen von ERP-Lösungen zusammenführen, die sich über verschiedene Länder, Einheiten oder Abteilungen erstrecken können, befinden sich auf einer digitalen Transformationsreise. Diese Strategie hat keine große Auswirkung auf den Endbenutzer und birgt kein hohes Risiko für den Betrieb. Es ist eine vergleichsweise zuverlässige Entwicklungsmethode, die kein großes Change-Management erfordert.

Unternehmen, die sich auf einer kontinuierlichen Innovationsreise befinden, wählen dagegen einen Cloud-first- oder sogar einen Cloud-only-Ansatz. Sie verlagern ihre Daten auf die neuen Plattformen, die auf einer offenen Architektur beruhen, sodass sie diese in ihr CRM-System integrieren und die Vorteile ihrer Daten nutzen können. Vor dem Hintergrund einiger größerer Ausfälle, die wir im Jahr 2021 erlebt haben, ist jedoch klar, dass das Thema Ausfallsicherheit die Herausforderung der kommenden Jahre sein wird. Da wir für die Cloud und in der Cloud bauen, müssen wir sicherstellen, dass die Cloud-Infrastruktur in Bezug auf Architektur, Sicherheit und Betrieb widerstandsfähig ist. 

Ist dies der Grund für die aktuellen Entwicklungen im Bereich der staatlichen Public-Cloud-Initiativen wie Gaia-X?

Eine sehr gute Frage: Gaia-X ist ein kontroverses Thema. Es begann mit der engagierten Absicht, die Cloud-Initiative für alle europäischen Länder zu werden. Die Idee war, ein europäisches Entscheidungszentrum zu schaffen, wie auch lokale Stellen, an denen Entscheidungen umgesetzt werden, um sicherzustellen, dass die Cloud den Bedürfnissen der Endbenutzer, der Nationen und Regierungen, entspricht. Gaia-X hat sich jedoch von der Idee eines großen Entscheidungsgremiums für Infrastrukturen zu einem Bezugssystem für die einzelnen Länder entwickelt, die ihre eigene nationale Cloud aufbauen. Offen bleibt, ob dieses Bedürfnis, die Kundendaten im eigenen Land zu halten, tatsächlich in der GDPR begründet ist oder ob dies nicht viel mehr mit Emotionen zu tun hat. Vor dem Hintergrund der Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf die europäische Gasversorgung könnten diese Emotionen, also die Angst vor dem Verlust des Zugriffs auf die eigenen Daten, weiter geschürt werden. Dies bereitet den Unternehmen große Sorge.

Und diese Bedenken werden wahrscheinlich nicht verschwinden, da sich einige Unternehmen, wie in Ihrem Buch beschrieben, zu echten digitalen Plattformunternehmen entwickeln. Können Sie erklären, was ein Unternehmen zu einem digitalen Plattformunternehmen macht?

Es gibt in der Branche etwas, das ich das Sonntag-Montag-Paradoxon nenne. Sie können bei Amazon an einem Sonntagmorgen etwas bestellen, und Amazon weiß genau, ob das Produkt in seinen eigenen Lagern oder in den Lagern des Anbieters verfügbar ist. Amazon kann ihnen sogar sagen, wann genau sie das Produkt am nächsten Tag ausliefern können. Die ERP-Systeme funktionieren bei Amazon also reibungslos. Das ist jedoch nicht der Standard. In vielen anderen Unternehmen sind die ERP-Systeme nicht in der Lage zu ermitteln, ob ein Produkt verfügbar ist oder nicht. Und wenn sie eine Aussage treffen, ist diese Information oft nicht zuverlässig. Eine Digital Operations Platform befähigt Unternehmen nun, das Sonntag-Montag-Paradoxon zu lösen und gleichzeitig eine zeitgemäße Benutzererfahrung wie auch ein hohes Maß an Zuverlässigkeit und Integrationsfähigkeit mit anderen Systemen zu bieten. Mit einer Digital Operations Platform können Unternehmen so zu digitalen Plattformunternehmen wie Amazon, Airbnb oder Uber werden.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass jedes Unternehmen eine explizite Datenstrategie für die Erfassung und Nutzung von Daten entwickeln muss. Wie lauten die ersten drei Schritte, die Sie Unternehmen empfehlen?

Verstehen Sie Ihre Mitarbeiter. Verstehen Sie Ihre Kunden. Verstehen Sie Ihr Geschäft.

Wir beobachten bei Entscheidungsträgern eine Verlagerung des Schwerpunkts von Back-Office- auf Front-Office-Technologien wie CMS oder E-Commerce, ausgelöst durch Dienstleister, die versprechen, jede erdenkliche Anwendung zu bauen. Dabei wird die Rolle der Back-Office-Technologie, die mit diesen Erwartungen Schritt halten muss, jedoch oft unterschätzt. Machen Sie ähnliche Beobachtungen?

Aus eben diesem Grund befasst sich meine erste Publikation bei Forrester mit ERP-Implementierungen (The Forrester DOP Implementation Responsibility Assignment [RACI] Matrix Tool) – und ich beobachte diesen Trend schon lange. Vor fünf Jahren war ich an einem Transformationsprojekt im Kundendienst beteiligt, das letztlich daran scheiterte, dass das ERP-System nicht in der Lage war, das revolutionäre Projekt zu unterstützen. Sie können die beste Kundenschnittstelle haben, doch wenn Ihr ERP-System nicht modernisiert wird, können Sie dem Kunden immer noch nicht sagen, ob das Produkt verfügbar ist oder nicht. An dieser Stelle muss also angesetzt werden. Es reicht nicht aus, eine Digitalagentur zu beauftragen, um eine Amazon-ähnliche Schnittstelle oder eine Airbnb-ähnliche Benutzererfahrung zu schaffen. Die Umgestaltung muss auch die Mitarbeiter, Daten und Prozesse im Back-Office einbeziehen – andernfalls werden jene Komponenten nach ein paar kostspieligen Monaten zu einem Showstopper.

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www.forrester.com

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Über Forrester:

Forrester hilft Unternehmens- und Technologieführern, mithilfe der Kundenorientierung das Wachstum zu beschleunigen, indem sie sie dazu befähigen, den Kunden in den Mittelpunkt ihres Handelns zu stellen – insbesondere in den Bereichen Strategie, Führung und im Geschäftsbetrieb.

Über Gaia-X:

Die Initiative Gaia-X wurde 2019 mit dem Ziel gestartet, Innovation in Europa durch digitale Souveränität zu erreichen. Dafür soll ein Ökosystem aus Richtlinien und Regelwerken für die sichere Verwaltung und Bereitstellung von Daten geschaffen und damit den Nutzern die Kontrolle über ihre eigenen Daten zurückgegeben werden. Die Umsetzung soll über die Vernetzung vieler unterschiedlicher Cloudserviceanbieter erfolgen.

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Picture credit © Dario Maisto/Forrester Research.


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