VON CARMELA MELONE
(Veröffentlicht in THE GAZETTE Ausgabe 02 im April 2023)
Vom Websitedesign zur holistischen Digitalisierung: Die Rolle der Digitalagenturen hat sich mit Transformation in den Unternehmen grundlegend verändert. Wir sprechen mit Markus Cansever, dem neuen Geschäftsführer von Valtech Deutschland, über Veränderung, Werteversprechen und Buzzwords.
Vor einigen Jahren war das Kerngeschäft der Agenturen der Aufbau von Webseiten, Landingpages oder auch mal die Entwicklung eines Onlineshops – abgeschlossene Projekte mit klarer Zielsetzung und Timeline. Das hat sich in jüngster Vergangenheit grundlegend verändert: Die Projekte haben einen viel umfangreicheren Kontext und damit sind auch die Konsequenzen der Digitalisierung weitreichender für den Rest der Organisation, Prozesse und IT-Infrastruktur. Was sich laut Markus Cansever, neuer Geschäftsführer von Valtech Deutschland, ebenfalls verändert hat, ist der digitale Wissenstand der Mitarbeiter. Heute gibt es ganze Digitalisierungsabteilungen mit einer Vielzahl von Wissensträgern in vielen Unternehmen – eine Entwicklung, die Cansever begrüßt.
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Interview mit Markus Cansever, Geschäftsführer von Valtech Deutschland
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Markus, welchen Vorteil hat es, wenn eure Kunden Digitalkompetenzen aufbauen?
Unser Ziel ist es schon immer gewesen, unseren Job beim Kunden so gut zu machen, dass wir als Agentur im Grunde obsolet werden, weil wir es geschafft haben, im Projekt ausreichend Kompetenzen aufzubauen, damit die Kunden selbst mit den Lösungen umgehen lernen und beispielsweise die Wartung und den Betrieb inhouse übernehmen. Das setzt allerdings auch die notwendigen Ressourcen voraus.
Dennoch braucht es die Expertise von außen – Marktkenntnisse und eine strategische Beratung sind sicherlich ebenfalls wichtig. Verlangt das nicht nach einem agnostischen Ansatz, was den Einsatz von Technologien angeht?
Absolut – wir waren eigentlich immer schon agnostisch, was gleichzeitig Freud und Leid ist für eine Digitalagentur. Gerade in der Kundenakquise, in Ausschreibungen und Pitches haben die Digitalagenturen, die eng mit einem einzigen Softwareanbieter zusammenarbeiten, häufig einen Vorteil. Wir haben natürlich die Schwierigkeit, unabhängig Kunden gewinnen zu müssen, damit wir individuell mit ihnen zusammen herausfinden können, was überhaupt für sie Sinn ergibt.
Gleichzeitig haben wir dadurch den Vorteil, dass wir resilienter sind, wenn ein Softwareanbieter strauchelt oder gar ganz vom Markt verschwindet. Der Beratungsansatz ist tatsächlich sehr wichtig, da wir beispielsweise auch antizipieren können, welche Lösungen sich in den nächsten ein, zwei Jahren im Markt etablieren werden.
Wir als Analysten spüren, dass es immer wichtiger wird, in jedem Digitalisierungsprojekt die gesamte digitale Lieferkette auf den Prüfstein zu legen und die Datenprozesse in ihrer Gesamtheit zu betrachten und zu optimieren. In der Konsequenz beobachten wir, dass die Grenzen zwischen Digitalagenturen und Systemintegratoren zu verschwimmen beginnen. Wie seht ihr das?
Für uns bei Valtech sind diese verschwimmenden Grenzen tatsächlich nichts Neues. Wir haben schon sehr früh angefangen, Kompetenzen im Data & Analytics-Bereich aufzubauen, und verfolgen daher das Thema Digitalisierung schon immer mit einem holistischen Ansatz. Wir hatten einige Kunden, die sehr schnell agiert und Data Lakes und CRM-Systeme aufgebaut haben, aber sehr wenig Mehrwerte daraus generieren konnten, weil die einzelnen Systeme nicht oder nur suboptimal miteinander gesprochen haben. Heute haben wir eine dedizierte Data-Abteilung, die sich sehr stark mit diesen „Data Frictions“ beschäftigt, auch, weil die Vernetzung mehrerer Datenströme eine immer größere Relevanz bekommt, etwa für die Echtzeitkommunikation im Marketing oder E-Commerce.
Damit sind wir in der Lage, unseren Kunden ein Rundum-Sorglos-Paket zu liefern, da wir sowohl über Kompetenzen im Bereich strategische Beratung und Design als auch das technische Know-how und Partnerschaften mit den passenden technischen Anbietern verfügen. Das bedeutet, wir begleiten Kunden und Kundinnen in der Regel von der Problemstellung über die Lösungsfindung hin zur Implementierung und den Betrieb.
Mit der wachsenden Bedeutung von digitalen Geschäftsmodellen hat sich auch die Rolle der Digitalagenturen gewandelt – wie erlebt ihr diese Entwicklungen?
Was sich in den vergangenen 15 bis 20 Jahren grundlegend verändert hat, ist die Rolle des Marketings. Noch zu meiner Zeit bei adidas war es eher so, dass das Marketing und auch die Anfänge des E-Commerce eher nebenbei mitgelaufen sind. Das hat sich im Laufe der Zeit spürbar verändert, was auch Konsequenzen für die Rolle der klassischen Digitalagentur hatte. Mittlerweile sehen wir ein ganz anderes Level an Digitalagenturen, die hohe fachliche Kompetenzen im Fokusbereich des digitalen Marketings und E-Commerce besitzen. Klassische Werbeagenturen haben sich beispielsweise durch Akquisen verstärkt.
Spätestens seit der Pandemie war dann auch für alle Unternehmen klar: An Digitalisierung geht kein Weg mehr vorbei. Aber wir konnten beobachten, dass viele Unternehmen mit dem Thema überfordert sind. Gleichzeitig haben wir festgestellt, dass viele das Thema aus einer falschen Perspektive betrachten. Digitalisierung funktioniert nicht wie ein Sparschwein, also je mehr Geld in die Projekte gesteckt wird, desto besser. Die Digitalisierungsprojekte von Organisationen werden nicht zwangsläufig erfolgreicher, nur weil sie mehr Geld investieren. Digitalagenturen müssen Unternehmen dabei unterstützen, herauszufinden, wo ihr Digitalisierungsbedarf liegt und in welche Projekte sie am besten (zuerst) investieren sollten. Das senkt die Hemmschwelle für viele Unternehmen, die in aktuellen wirtschaftlich turbulenten Zeiten eventuell nicht bereit sind, große Summen zu investieren oder mit Personalmangel zu kämpfen haben.
Während Unternehmen Digitalisierung früher als etwas gesehen haben, dass kurzfristige ROIs bringt, denken sie heute verstärkt strategisch und langfristig. Digitalagenturen sind der perfekte strategische Partner für so ein Unterfangen. Sie können nicht nur dabei helfen, konkrete Projekte umzusetzen, sondern auch als Verlängerung des Kundenteams agieren. Und sie helfen dabei, ganze Teams fortzubilden oder Expertise in einem Joint Venture zu bündeln – wie Valtech und Audi, die zusammen Valtech Mobility gegründet haben.
Auch bei anderen Kunden sehen wir ähnliche Bestrebungen, und wir sind in konkreten Gesprächen diesbezüglich. Leider können wir hierzu aber noch keine Namen nennen.
Was sind die typischen Bedürfnisse, mit denen eure Kunden auf euch zukommen?
Das ist komplett unterschiedlich und reicht von strategischer Guidance für ihre digitale Transformation bis hin zu konkreten Programmen und Projekten wie Replatformings oder E-Commerce-Plattformen. Die Tendenz geht aktuell aber ganz klar in Richtung ganzheitlicher Transformationsprogramme samt Organisationsagilisierung, da sich aufgrund der heutigen Komplexität nur schwer einzelne Projekte herausschneiden und an unterschiedliche Partner vergeben lassen.
Das Gros unserer Kunden haben bereits Enterprise-Lösungen im Einsatz, und die funktionieren auch – sind aber meistens heterogen in den verschiedenen Ländern ausgerollt. Das erschwert den Unternehmen die strategische Steuerung und Umsetzung von Maßnahmen und auch die effiziente Nutzung dieser Systeme. Diese Unternehmen unterstützen wir darin, die Heterogenität zu erfassen und auf dieser Basis einen sinnvollen Digitalisierungsplan zu entwerfen. Gleichzeitig setzen wir die Integrations- oder Implementierungsprojekte aber eben auch um, und das kommt bei unseren Kunden sehr gut an.
Traditionell kamen unsere Kunden mit einer konkreten Problemstellung zu uns, wie etwa der Modernisierung eines Webshops. Mittlerweile können wir beobachten, dass Kunden verstärkt nach langfristigen Partnerschaften suchen. Heute ist eigentlich jedem Unternehmen klar, wie wichtig digitale Transformation für den Unternehmenserfolg ist. Doch das ist leichter gesagt als getan. Legacy-Systeme, Governance-Themen, Personalmangel oder zu kleine Budgets erschweren die Umsetzung von Digitalisierungsbestreben. Viele unserer Projekte drehen sich heute nicht mehr nur darum, alte Systeme zu erneuern, sondern auch darum, zukunftsfähige Lösungen zu implementieren. Ziel ist es, neue Geschäftszweige und Umsatzmöglichkeiten zu eröffnen oder den Markt unserer Kunden und Kundinnen langfristig nach vorne zu bringen.
Composable Commerce ist eines der aktuell größten Buzzwords – mit Valtech’s Composable Commerce Center of Excellence habt ihr euch das Thema ebenfalls auf die Fahnen geschrieben. Warum ist der Begriff mehr als nur ein Trend?
Composable Commerce ändert die Art und Weise, wie Unternehmen das Thema Digitalisierung angehen, grundlegend. Mit seiner flexiblen technischen Architektur spielt Composable Commerce eine wichtige Rolle bei der Modernisierung von Unternehmen. Es ermöglicht ihnen, schnell, effizient und proaktiv zu handeln, um direkte Beziehungen zu ihren Verbrauchern und Kundinnen zu pflegen – sowohl über ihre eigenen Kanäle als auch über die Kanäle von Drittparteien. Es ist ein Paradigmenwechsel, der digitales Denken auf allen Ebenen eines Unternehmens berücksichtigt. Mit der Einführung von Composable Commerce werden sich Unternehmen weniger auf Projekte an sich und mehr auf digitale Produkte konzentrieren. Denn durch den modularen Ansatz passt sich die Plattform den wachsenden Anforderungen an, statt dass Unternehmen sich den Grenzen der Plattform anpassen müssen.
Außerdem wird die Technologiebranche in die Lage versetzt, ihren Kunden Dienstleistungen anstatt ganzer Systeme zu liefern. Auf diese Weise kann eine digitale Umgebung ganz einfach an die Bedürfnisse des jeweiligen Unternehmens angepasst werden. Laut Gartner übertreffen Unternehmen, die einen Composable-Commerce-Ansatz verfolgen, ihre Konkurrenz in der Geschwindigkeit der Implementierung neuer Funktionen um bis zu 80 Prozent. Im Klartext bedeutet das, dass nur diejenigen Unternehmen, die sich erfolgreich an die sich ändernden Anforderungen des digitalen Handels anpassen können, langfristig erfolgreich sind. Diejenigen, die das nicht können, laufen hingegen Gefahr, zurückzufallen.
Als einer der Mitbegründer der MACH Alliance hat Valtech das Konzept MACH – Microservices, APIs, Cloud und Headless – entscheidend mitgeprägt. Welche Beweggründe steckten hinter dieser Initiative?
Ziel der MACH Alliance ist es, über die Vorteile einer offenen, modernen Architektur für digitale Erlebnisse aufzuklären. Seit ihrer Gründung im Jahr 2020 hat die MACH Alliance einen einfachen, aber leistungsstarken Standard etabliert, der das Digitalisierungsbestreben von Unternehmen lenkt und so hilft, Innovationen voranzutreiben: Microservices-basiert, API-first, Cloud-native SaaS und Headless.
Erwähnenswert ist auch der Non-Profit-Ansatz der Organisation. Die MACH Alliance möchte keinen Profit machen, sondern die Branche langfristig positiv verändern. Denn unabhängig davon, in welcher Branche sie tätig sind: Unternehmen haben den Stellenwert von digitaler Transformation für ihren betrieblichen Erfolg verstanden. Doch gleichzeitig haben sie das Gefühl, vor einem kaum zu bewältigenden Mammut-Projekt zu stehen. Welche Bereiche sind am wichtigsten für mein Unternehmen? Welche Themen sollten zuerst angegangen werden? Deshalb war es wichtig, eine neutrale gemeinsame Basis zu schaffen, auf der Ideen und Innovationen gedeihen können. Das hilft Unternehmen zu erkennen, dass sie mit diesen Problemen nicht allein sind.
Die Themen Omnichannel und Composable werden in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen, denn die Erwartungshaltung von Kundinnen an personalisierte Kundenerlebnisse steigt – sowohl im B2C- als auch im B2B-Bereich. Moderne Kunden erwarten personalisierte Customer Journeys über alle Touchpoints hinweg. Das führt dazu, dass Unternehmen branchenunabhängig in der Lage sein müssen, schneller denn je auf sich verändernde Marktanforderungen und Kundenerwartungen zu reagieren. Genau dafür legt der MACH-Standard die Grundlagen.
Mit Tech Girl habt ihr ein globales Programm zur Förderung von Mädchen ins Leben gerufen – kannst du uns ein bisschen mehr darüber erzählen?
Tech Girl ist seit jeher eine der wichtigsten externen Initiativen von und für Valtech. Diese Initiative konzentriert sich darauf, die nächste Generation von Frauen in der Technik zu fördern, indem sie junge Mädchen, insbesondere aus benachteiligten Gebieten, über technische Berufe aufklärt und ihnen diese vorstellt.
Durch Tech Girl ermutigen wir junge Mädchen, sich mit Technologie und den ihnen offenstehenden Karrieren zu beschäftigen. Zunächst teilen sie mit, was sie von Technologie halten (was wir am Ende noch einmal abfragen, um den Unterschied zu sehen), dann tauchen sie in das Programmieren ein. Dabei werden sie von unseren eigenen Kolleginnen in der Technik hier bei Valtech unterstützt und angeleitet und beantworten alle Fragen, die die Mädchen haben. Anschließend stellen sie ihre Arbeit vor und erhalten ihr Diplom. Zum Abschluss des Tages hören alle angehenden Technikerinnen von unseren Valtechies etwas über ihre eigenen Karrieregeschichten, um die nächste Generation von Frauen in der Technik zu inspirieren. Wir führen diese Veranstaltungen in Argentinien, Brasilien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Indien, Kanada, Mexiko, den Niederlanden, Nordmazedonien, Schweden, Großbritannien, der Ukraine und den USA durch.
Tech Girl ist aber nur eine, wenn auch zentrale Säule in unserer globalen D&I-Strategie, die weit mehr umfasst als nur das. Im Laufe des ersten Halbjahres wird unser erster globaler D&I-Report veröffentlicht, der eine Vielzahl von Maßnahmen und Initiativen beinhaltet.
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Über Markus Cansever:
Markus Cansever arbeitet bereits im zwölften Jahr bei Valtech. Davor war er im Gründer-Team eines E-Commerce-Start-ups in der Schweiz und im Global Digital Marketing und E-Commerce-Bereich bei adidas tätig. Während seiner Zeit bei Valtech Deutschland hat er den E-Commerce-Bereich mit aufgebaut, hat dann den Standort München geleitet, war anschließend als Prokurist tätig und wurde kürzlich als Nachfolger von Uwe Tüben zum Geschäftsführer ernannt.
Über das Unternehmen:
Valtech ist eine globale Digitalagentur, die 1993 in Paris gegründet wurde und heute ihren Hauptsitz in London hat. Zu den Leistungen von Valtech gehören insbesondere Marketingservices, das Design und die Entwicklung digitaler Plattformen, Business Transformation und die kanalübergreifende Optimierung von Customer Experience.
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Picture credit © Valtech
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